Eine Erzählung aus der Unendlichkeit,
von
Michael Thomas Wenberg
I. Kapitel
Die Frage aller Fragen
Johannes ging mit seinem Vater durch die sternenklare Nacht.
Sie waren zu einer Geburtstagsfeier eingeladen gewesen.
Die Kinder hatten zusammen gespielt und gelacht,
den ganzen Nachmittag.
Sie hatten Kakao getrunken,
und sich an den fantasievollsten Kuchen sattgegessen. Nun war es spät geworden,
und Vater und Sohn mussten zu Fuß ins nahegelegene Dorf zurückkehren,
wo sie wohnten, weil der letzte Bus schon abgefahren war.
Sie nahmen die Abkürzung am Fluss entlang.
Es war eine uralte Straße, die einst als einzige die beiden Dörfer miteinander verband und auf der heute niemand mehr ging oder fuhr,
weil die Leute diese Verbindung längst vergessen hatten,
weil es ja heute die Superstraße gab, auf der sich die eiligen Menschen mit ihren Autos in rasendem Tempo hin und her bewegten.
*
Aus der Ferne hörten sie den Motorenlärm nur noch leise an ihre Ohren klingen.
Aber hier, auf dem uralten Weg am Fluss entlang, war alles anders.
Geheimnisvoll flimmerten die unzähligen Sonnen am Himmelszelt
und spiegelten sich liebevoll in dem langsam dahinziehenden Fluss,
dessen sonst trübes Wasser, jetzt in der Nacht,
so weich und seidenglänzend schimmerte,
als lägen auf seinem Grund lauter Edelsteine verborgen.
Die Büsche und Bäume am Weg säuselten im Nachtwind,
als wollten sie gleich zu sprechen beginnen, und Johannes glaubte,
zauberhafte Wesen am Ufer sitzen zu sehen.
Im gleichen Augenblick traten ihm Tränen in seine erschreckten Augen.
Die seltsamen Gestalten der Nacht flößten ihm tiefen Respekt ein.
Die Furcht kroch ihm den Rücken hinauf, und in seinem Hals steckte ein dicker Kloß.
Er wollte weinen.
*
Sein Vater aber musste seine Unsicherheit bemerkt haben,
denn dieser nahm ihn fester bei der Hand, und Johannes spürte jetzt,
wie sehr ihm der Vater damit half, unverzagt und mit sicherem Schritt
durch die Dunkelheit voranzuschreiten.
"Sieh nur, Vater, die Sterne die uns den Weg leuchten! Ohne sie wäre es so finster, dass wir uns hier draußen vielleicht verirren müssten."
"Ja, was wäre dieser ganze, große Himmel, ohne seine Sterne?"
sagte der Vater fragend. "Wie armselig wäre doch die Finsternis,
ohne dieses Leuchten da oben, und wie sinnlos wäre unser Leben, ohne das Licht!
Das Licht ist immer da! Am Tage ist es uns ganz nahe,
aber selbst in der dunkelsten Nacht geht es uns nicht ganz verloren."
"Sind die Sterne weit von hier, Vater?"
"Ja, Johannes, die Sterne sind unendlich weit von uns entfernt,
und doch ist ihr Licht so nahe, dass wir in ihm gehen können.
Das Licht ist so schnell wie unsere Gedanken, und manchmal habe ich den Eindruck,
als müsste das Licht und unsere Gedanken aus demselben Stoff gemacht sein."
"Sag mir, Vater, was weißt Du über die Sterne da oben,
über das Licht und unsere Gedanken?"
"Ich weiß, Johannes, dass jeder einzelne dieser funkelnden Sterne eine Sonne ist,
und jede dieser unzähligen Sonnen ist ein Königreich."
"Ein Königreich?" fragte Johannes verwundert.
"Ja, Johannes! So wie unsere Sonne über diese Erde scheint,
so scheint eine jede Sonne, ein jeder Stern auf eine Erde und auf eine Menschheit."
"Sag mir, Vater, wofür ist die Erde da?
Weshalb sind die Menschen da, und warum bin ich da? Warum eigentlich?"
"Siehst du, mein Sohn, auf diesen Augenblick habe ich gewartet!
Du hast soeben die Frage nach dem Sinn deines Lebens gestellt, und ich bin der erste, der dir darauf eine Antwort geben darf.
Von nun an wird dir überall eine Antwort begegnen,
und du wirst niemals wieder aufhören zu fragen.
So lass mich dir denn eine Geschichte erzählen - ganz von Anfang an."
II. Kapitel
Das Königreich des Lichtes
Es war einmal
und ist es noch und wird es immer sein.
Und ich glaube gehört zu haben, dass diese Geschichte fast eine Million Jahre alt ist.
Es war also einmal ein Königreich,
gar nicht weit von hier, nur ein paar hundert Lichtjahre von uns entfernt in der A l l m i t t e -
dem großen Ursprungsgebiet aller Wesen
und Geschöpfe unserer Heimat.
*
Die große Schöpfersonne dieses Königreiches
lag im Mittelpunkt von vier wunderschön leuchtenden Sternen,
und sie strahlte eine so unfassbare Schönheit aus, dass jeder,
der sie einmal gesehen hatte, nur noch weinen konnte vor lauter Glück.
Es war das Lichtschloss des großen Schöpfervaters,
der das ganze Reich mit unbeschreiblicher Liebe regierte.
Der große, weise Schöpfervater aber war immer schon da,
und keiner seiner Untertanen hatte ihn je von Angesicht zu Angesicht gesehen,
und so konnte auch niemand wissen, wie er wirklich aussah.
*
Den erstgeborenen Sohn aber setzte der Vater auf den Königsthron,
um sein gewaltiges Reich zu verwalten,denn das Land brauchte eine starke Hand,
die ihm in großer Weisheit beim Regieren half. Denn du musst dir einmal vorstellen, wieviel Kraft es gekostet haben mag, ein solch herrliches Königreich zu erschaffen,
und es dann allezeit mit der nötigen Energie zu versorgen.
Die ganze Herrlichkeit des Schöpfervaters zeigte sich in diesem ganzen,
wunderbaren Königreich, das gleich dem aller edelsten Stein, einem Jaspis, leuchtete.
*
Das große Reich war von einer hohen, breiten Mauer umgeben,
in das wir durch zwölf Tore aus allen Himmelsrichtungen hineingehen konnten.
Jedes dieser Tore war, von den Künstlern des Landes,
aus einer einzigen Perle geschnitzt worden.
Und vor jedem dieser Tore standen speziell dafür ausgewählte Wächter
mit ihren Lichtschwertern. Die Mauern waren auch aus leuchtendem Jaspis,
und die Hauptstadt war aus reinem Golde gemacht.
*
Wunderschöne, weiße Marmorstraßen durchkreuzten das weite Land,
auf denen sich die Bewohner mit Gedankenkraft vorwärtsbewegten.
Das Klima war so mild und lieblich, dass niemand zu frieren brauchte,
und in den zauberhaft üppigen Gärten wuchsen die besten Früchte,
so zahlreich, dass niemand hungern musste.
*
Alle Geschöpfe waren glücklich. Keinem wurde weh getan.
Sie liebten sich alle untereinander so, wie sie der große Schöpfervater geschaffen hatte. Das große, weite Königreich war in zarte Wolken aus Licht und Liebe eingehüllt.
Sie alle waren Wesen guten Willens,
und jeder konnte auf diese Weise wachsen und gedeihen,
wie es ihm selbst am besten gefiel.
Die Untertanen des Königs arbeiteten mit großer Hingabe daran,
denn sie wussten, dass alles, was der König ihnen zu tun empfahl, gut und richtig war. Niemand zweifelte auch nur einen Augenblick an seiner Weisheit und Gerechtigkeit, denn er sorgte für sie alle.
Die kristallklaren Wasser des Lebens durchzogen das Reich in tausenderlei Armen,
wie ein riesiges Bewässerungsnetz, aus dem jeder Bewohner trinken
oder in dem er baden konnte, so oft er es wollte,
und das erhielt sie alle froh und gesund.
*
In jenem großen, weiten Königreich waren alle Einwohner so wohlhabend,
dass niemand so etwas wie Geld benötigt hätte,
und jeder tat die Arbeit, die er machte, freiwillig und aus lauter Lebensfreude,
und auch zu seinem eigenen Vergnügen.
Und immer lobten sie ihren starken König, der der erstgeborene Sohn
des großen Schöpfervaters war, und den er als seinen Verwalter eingesetzt hatte,
und der alles, was ihm der Vater gab, wieder an seine geliebten Kinder weiterreichte.
Und so nannten sie ihren König
A l l e s l i e b,
weil er alle Geschöpfe im Lande über alles liebte.
*
Ein andere Sohn aber,
den der Schöpfervater in seiner großen Weisheit erschaffen hatte, hieß
W u n d e r s c h ö n,
denn er war der Schönste im ganzen Königreich, und der Glanz seiner Ausstrahlung
ließ die anderen Brüder und Schwestern weit hinter sich zurück.
Wunderschön war also der Allerschönste, Alleslieb aber war der König des Reiches
in der Allmitte, zwischen den vier Weltensonnen,
die der weise Schöpfervater und er gemeinsam regierten.
*
Und so hätte es weitergehen können, von Ewigkeit zu Ewigkeit,
wenn nicht eines Tages in dem Bruderherz Wunderschön
eine schrecklich eigenwillige Idee aufgetaucht wäre,
die das ganze Königreich ins Wanken brachte,
und ein ungeheures Durcheinander verursachte.
Dem Wunderschön kam nämlich der furchtbare Gedanke,
dass sein Bruder Alleslieb zu Unrecht auf dem Königsthron säße,
denn nicht der älteste Sohn, sondern der Schönste Sohn müsste das Vorrecht haben, mit dem Zepter in der Hand, diese Welt nach seinen eigenen Vorstellungen zu führen, und die Geschicke des Landes zu leiten, wie er allein es für richtig hielt.
Er, der Wunderschön, wäre der einzig rechtmäßige König,
und er allein würde es ebenso gut machen,
und das Reich ebenso weise zu regieren verstehen,
wie der große Schöpfervater höchst persönlich.
Er, der Wunderschön, der Allerschönste,
wollte Gottvater gleich sein - er wollte sein wie Gott selbst.
Diesen Gedanken rief er durch das ganze Königreich,
das im gleichen Augenblick vor Schreck erstarrte.
III. Kapitel
Die Geburt der Finsternis
Eine kleine Ewigkeit lang standen alle Herzen still.
Die Brunnen im Lande
hörten plötzlich auf Wasser zu speien,
die Meere und die Flüsse hielten den Atem an,
und die Quellen hörten auf zu sprudeln.
Eine dunkle, düstere Wolke schob sich träge zwischen das Lichtschloss des Schöpfervaters,
zwischen ihn und seine ganze Schöpfung.
In der Hauptstadt des Königreiches
gingen die Lichter aus, und die Bewohner befiel panische Angst.
Niemand wusste, was eigentlich geschehen war. Es war das erste Mal,
dass in ihrer herrlichen Welt so etwas Unglaubliches geschah,
dass das ganze Land in Unordnung geriet.
Die Gedanken des Königssohnes Wunderschön waren urplötzlich Wirklichkeit geworden. Ja, die Gedanken waren die Wirklichkeit, und sie nahmen jetzt Gestalt an.
Wunderschön merkte plötzlich, dass er aus der himmlischen Ordnung
des Schöpfervaters herausgefallen war,
und dass sein Andersdenken neue, seltsame Wesen schuf.
*
Da waren der N e i d und die Ei f e r s u c h t. Giftige Blitze zuckend,
und mit verzerrten Gesichtern
stolperten sie durch die weißen Marmorstraßen,
und ihr schlechter Geruch
drang auch in die schönsten Häuser ein.
Ihre riesigen, nebelhaften Schatten
verfinsterten selbst dort,
wo die Gärten am lichtesten waren,
ihre ganze Lieblichkeit.
*
Und dann aber kam einer namens
H o c h m u t,
dessen viel zu kleiner Kopf auf ganz breiten Schultern saß,
den engen Hals in einen steifen Kragen eingehüllt.
Voll arrogantem S t o l z kam er auf einem feurigen Ross daher geritten.
Und da erkannte Wunderschön seine eigenen hässlichen Gedanken wieder.
Sie waren so eigenwillig und so schmerzhaft gegen den großen Schöpfervater gerichtet, dass dieser weinen musste, über den schönsten seiner Söhne.
Und in diesem Augenblick wurde dem Wunderschön klar,
dass er dem Vater wehgetan hatte,
indem er solch garstige Gestalten schuf, die der göttlichen Schönheit spotteten.
*
Als einige helle Köpfe schließlich wieder aus ihrer magischen Verzauberung erwachten, erkannten sie sofort die Situation
und gaben dem Königssohn Wunderschön einen neuen Namen:
E i g e n w i l l
sollte er fortan heißen, denn er hatte sich vom Vater aller Geschöpfe abgewandt,
und es war dies sein eigener, freier Wille gewesen.
Eigenwill also verstand jetzt, was er angerichtet hatte.
Aber er konnte es nicht mehr rückgängig machen.
Die neuen Wesen, die die Bewohner im ganzen Lande belästigten,
waren nun einmal da und hatten Gestalt gewonnen,
und sie wollten ein Teil von allen Geschöpfen werden.
*
Aus dem Wunderschön war jetzt der Eigenwill geworden.
Und obwohl der Eigenwill seinen Fehler erkannt hatte,
er konnte seine Gedanken nicht mehr bremsen,
und so rollten sie durch das ganze, weite Königreich.
Wie eine Lawine zerstörten sie die kostbare Landschaft
und begruben alle Schönheit unter sich,
und Eigenwill verstand die Sprache nicht mehr,
die ihn früher mit seinem großen Schöpfervater und seinem Bruder Alleslieb verband.
IV. Kapitel
Michaels'
Entscheidung
Michael, ein Vasall seines Königs Alleslieb,
erreichte die schlechte Botschaft
weit draußen an fernen Gestaden.
Der treue Gefolgsmann seines Herrn
inspizierte gerade die äußersten Grenzposten
des Reiches dort,
wo die Milchstraße im Großen Urgrund endete.
Er war der Anführer der vielen Heerscharen,
die mit ihren Lichtschwertern
die zwölf Tore des Landes bewachten.
Der große Schöpfervater war ein Wesen der Ordnung,
und so hatte er seinem Sohn Alleslieb aufgetragen,
den besten Streitern des Reiches die wichtigsten Aufgaben anzuvertrauen.
*
Der Vasall Michael hörte die schlimme Kunde von diesen neuen Wesen der Unordnung, die der Schönste im Reiche mit seinen Gedanken geschaffen hatte,
und seine hohe Stirn legte sich in tiefe Falten.
Sein langes, goldenes Haar,
das selbst hier draußen, am Ende der Welt, noch so lichtvoll funkelte,
als hätte er gerade eben erst das Lichtschloss des Schöpfervaters verlassen,
verfärbte sich plötzlich rötlich.
Die hässlichen Gedanken des Eigenwill,
sein Neid und seine Eifersucht auf Alleslieb, hatten ihn schwer getroffen.
Aber als Michael von dem neuen Wesen - das sie Hochmut nannten - hörte,
ergriff ihn der Heilige Zorn.
*
Der Heilige Zorn war eine furchtbare Waffe,
und seine gewaltige Kraft steckte in den so wunderbar leuchtenden Lichtschwertern, und darum durfte nur derjenige im Lande eine solche Waffe tragen,
den der große Schöpfervater eigens dafür ausgesucht hatte.
Michael aber war die Macht gegeben, das große, weite Königreich zu bewachen,
und jeder, der ein Lichtschwert führte, hörte auf sein Kommando.
Der große, weise Schöpfervater aber sagte zu alledem nichts,
denn er wusste, dass er sich auf Michael verlassen konnte.
*
Dann gab Michael seinen ersten Befehl.
Er ließ seinen schnellsten Boten eine Posaune reichen
und befahl ihnen, mitten durch das Land zu reiten, so rasch sie es vermochten,
und sie sollten sich von niemandem aufhalten lassen.
Jeder Bewohner, der die Posaune hörte und ihr fortan gehorchen wollte,
sollte auf die linke Seite des Königreiches treten,
so dass auf der rechten Seite nur noch die Bewohner standen,
die sich mit den Gestalten des Neides,
der Eifersucht und des Hochmutes eingelassen hatten.
Die Gasse aber, welche die Boten mitten durch das große, weite Königreich schlugen, sollte von beiden Seiten bewacht werden,
damit niemand mehr herüber oder hinüber konnte.
Und diese sollte mitten in die goldene Hauptstadt führen, bis hin zum Palast,
und erst am Throne des Königs Alleslieb durfte sie enden.
*
Nach dem Michael seinen Befehl gegeben hatte,
bestieg er sein weißes Pferd, das das schnellste im Königreich war,
und zog sein Feuerschwert, die Waffe des Heiligen Zornes, aus der Scheide.
Mit dem Ruf: "G o t t e s W i l l e i s t d a s G e s e t z d e r H e i l i g k e i t !"
jagte er dem Schall der Posaunen nach.
Sein saphirblauer Lichtmantel wehte weithin im Sonnenwind sichtbar wie ein Komet, und aus seinem rotgoldenen Haar blitzten
die reinen Gedanken der Liebe zu seinem König Alleslieb.
Wo überall er aber den schwarzen Reitern des Hochmutes begegnete,
die so lichtlos wie ihre Schatten waren, schwang Michael sein Feuerschwert
und berührte mit ihm die kalten Herzen seiner kranken Brüder.
*
Die Berührung mit dem heilenden Schmerz,
den die Kraft des Heiligen Zornes verursachte,
stoppte im gleichen Augenblick die Gefolgsleute des Hochmutes,
und hieß sie auf die rechte Seite des Königreiches treten.
So kämpfte sich Michael durch die schmale Gasse,
bis er an den Thron seines Königs Alleslieb vorgedrungen war.
Dort sprang er von seinem Schimmel, verneigte sich tief
und küsste in Demut die Füße seines geliebten Herren.
Dann erhob er sich, stellte sich zur Rechten des Königsthrones
und rief mit lauter Stimme:
"W e r i s t h i e r w i e G o t t ?!"
Und mit einem einzigen, mächtigen Hieb,
schlug er mit dem Schwert des Zornes das Königreich in zwei Hälften.
Der große, weise Schöpfervater aber sagte zu alledem nichts,
denn er wusste, dass er sich auf Michael verlassen konnte."
V. Kapitel
Der Tränensee
Als nun der Vasall Michael
das leuchtende Königreich geteilt hatte,
um es von den Gestalten der Finsternis
zu befreien, gab er Anweisung,
die zwölf Tore des Reiches
hinter ihnen zu schließen.
Niemals wieder sollten sie ihre düsteren Schatten über die lichten Gärten werfen dürfen,
und niemals wieder
sollten sie die reinen Gedanken
der Bewohner des Landes ängstigen können,
wenn sich diese fleißig über die weißen Marmorstraßen dahinbewegten.
Das leuchtende Königreich des großen Schöpfervaters
sollte ein Reich des Friedens und der Liebe bleiben.
*
König Alleslieb dankte dem treuen Gefolgsmann für seine mutige Tat,
durch die er das lichte Land gerettet hatte.
Dann erhob er sich von seinem goldenen Thron
und verkündete s e i n e Entscheidung,
und seine Stimme hallte so klar und deutlich durch das ganze, weite Königreich,
dass alle seine Bewohner es hören konnten:
"V o n h e u t e a n s o l l e s z w e i K ö n i g r e i c h e g e b e n !
D a s K ö n i g r e i c h d e s L i c h t e s a u f d e r e i n e n S e i t e,
u n d d a s K ö n i g r e i c h d e r N a c h t a u f d e r a n d e r e n -
u n d i n j e n e m R e i c h
s o l l m e i n B r u d e r E i g e n w i l l K ö n i g s e i n.
W e r i m m e r d a s K ö n i g r e i c h d e s L i c h t e s v e r l a s s e n w i l l,
d e r m a g e s d u r c h e i n e s d e r z w ö l f T o r e v e r l a s s e n,
u n d k e i n W ä c h t e r s o l l i h n d a r a n h i n d e r n.
W e r a b e r a u s d e m K ö n i g r e i c h d e r N a c h t
i n d a s K ö n i g r e i c h d e s L i c h t e s z u r ü c k k e h r e n w i l l,
d e r b e d a r f m e i n e r p e r s ö n l i c h e n G e n e h m i g u n g.
E s s o l l j e d o c h n u r d e r j e n i g e m e i n e E r l a u b n i s e r h a l t e n,
d e r a l l e F i n s t e r n i s v o n s i c h a b g e s t r e i f t h a t,
s o d a s s e r w i e d e r s o l e i c h t w i e e i n e F e d e r g e w o r d e n i s t.
E r s t, w e n n s e i n e G e d a n k e n w i e d e r s o r e i n s i n d
w i e d a s L i c h t s e l b s t,
s o w i l l i c h i h n i n m e i n e A r m e n e h m e n,
u n d e r s o l l d a n n w i e d e r s e i n w i e f r ü h e r,
a l s e r s o r g l o s a u s d e n W a s s e r n d e s L e b e n s t r a n k.
I c h, d e r K ö n i g d e s L i c h t e s,
b i n d e r g e s e g n e t e A n f a n g u n d d a s g l ü c k s e l i g e E n d e.
W e r i n d a s l i c h t e R e i c h
u n s e r e s g r o ß e n, w e i s e nS c h ö p f e r v a t e r s h e i m k e h r e n w i l l,
d e m w i l l a u c h i c h m e i n e H a n d r e i c h e n,
u n d i h m s o l l g e h o l f e n w e r d e n.
A u c h s o l l e n i h m a l l e B e w o h n e r
g u t e n W i l l e n s u n d b e h i l f l i c h s e i n.
V o n n u n a n s o l l F r e u d e h e r r s c h e n
i m K ö n i g r e i c h d e s L i c h t e s,
ü b e r j e d e n e i n z e l n e n,
d e r d e n W e g z u r ü c k f i n d e t."
*
Nach dem König Alleslieb seinen Willen kundgetan hatte,
zog er sich mit seinen weisesten Beratern zurück,
um mit ihnen gemeinsam darüber nachzudenken, was alles geschehen müsste,
um den Bewohnern des Königreiches der Nacht zu helfen.
Aber niemand wusste wirklich Rat.
Da wurde der König so traurig, über seine gefallenen Brüder,
dass er seine persönlichen Gemächer aufsuchte und bittere Tränen zu weinen begann.
*
Alleslieb weinte so bitterlich,
dass die goldene Hauptstadt fast in seinen Tränen ertrank,
und die Bewohner stellten gläserne Gefäße auf,
um die kostbare Energie ihres Herren aufzufangen.
Eine kleine Ewigkeit lang waren sie damit beschäftigt,
die Tränen ihres Königs, in einem eigens dafür geschaffenen See, zu sammeln.
Aber niemand hatte es ihnen aufgetragen oder gar befohlen.
Sie taten es aus reiner Anteilnahme an dem großen Schmerz
ihres so hochgeschätzten und geachteten Königs.
Er, der die ganze Schöpfung über alles liebte, litt am allermeisten unter der Teilung, des von ihm so klug und behutsam gehegten Landes.
*
Der Tränensee aber wuchs und schwoll.
Und als gerade eine neue Ewigkeit beginnen wollte,
und sich die Bewohner immer noch neue Gefäße herbeiwünschten,
um ja keine einzige Träne zu verlieren, da geschah ein Zeichen am Firmament.
Von dem Lichtschloss des großen Schöpfervaters
kam ein ganz besonders schöner Strahl herübergeeilt und leuchtete so warm,
hell und klar, dass jeder Bewohner seiner gewahr wurde.
Aus diesem Lichtstrahl aber er trat ein Bote seiner höchsten Herrlichkeit
und verneigte sich tief vor König Alleslieb.
Und vor lauter Glück, vergaß dieser zu weinen.
*
"Der Erhabene sendet Dir durch mich seine Grüße und lässt Dir sagen,
Du mögest Dich erheben und ihm die Freude machen, ihn zu besuchen.
Dort sollst Du erfahren, was weiter zu tun nötig ist."
König Alleslieb war sehr glücklich über diese Einladung seines Vaters
und machte sich sogleich reisefertig und auf den Weg.
Er wusste, es war weit, und eine beschwerliche Unternehmung,
denn das Lichtschloss seines großen Schöpfervaters
lag weit draußen im Universum,
in der Allmitte,
zwischen den vier Weltensonnen.
VI. Kapitel
Die Reise zum Lichtschloss
Also verließ König Alleslieb
den Sonnentempel
in der goldenen Hauptstadt,
von wo aus er das riesige Reich regierte,
um zu seinem großen Schöpfervater zu reisen.
Der Sonnenwind blies ihm die letzten Tränen
aus seinen gütigen Augen
und ließ sein goldenes Haar
noch lichtvoller erstrahlen,
als es ohnehin schon glänzte und funkelte.
So wanderte er durch die weißen Marmorstraßen seines Landes
und nutzte die Gelegenheit,
wieder einmal seine ganze Schönheit in Augenschein zu nehmen.
Wo immer er vorüberging, hielten die Bewohner in ihrer Arbeit inne
und verneigten sich vor ihrem großmütigen König,
und dieser wurde nicht müde,
sie seine unergründlich tiefe Liebe spüren zu lassen.
*
"Wie groß und weit ist doch unser so wunderbar leuchtendes Königreich!"
rief Alleslieb aus, als er noch einen der schön geformten Berge erklommen hatte,
und er von seiner Spitze aus in ein weites,
himmelsgrün leuchtendes Tal hinunterblickte.
Dahinter kam wieder ein wunderschöner Berg,
und dahinter wieder ein herrlich leuchtendes Tal.
So ging es weiter und weiter.
Überall lebten die Bewohner glücklich und zufrieden,
und ihre warmen Herzen strahlten durch ihre fröhlichen Augen hervor,
wenn sie ihren anmutigen König erblickten.
*
Und immer folgte Alleslieb dem Weg der weißen Wolken,
die der Sonnenwind vor sich hertrieb,
immer weiter in die Richtung jener großen Schöpfersonne zu,
wo das Lichtschloss seines Vaters lag - für alle geistigen Augen weithin sichtbar.
Am Ende seines Königreiches aber, also am Ende dieses Sonnensystems,
dort wo die Welt, hinter dem magnetischen Schutzschild, in den großen Urgrund abfiel,
lag das Lichtschiff seiner Majestät würdevoll wartend vor Anker.
Als der König an Bord gekommen war, den Kapitän und seine Besatzung begrüßt hatte,
setzte es sich mit Lichtes Eile in Bewegung und durchkreuzte das große Urmeer,
das zwischen dem Königreich und dem Lichtschloss des erhabenen Allvaters lag.
Wo immer aber das Lichtschiff seiner Majestät vorüber wirbelte,
verneigten sich die Sterne.
*
Das große Urmeer aber war immer schon da,
und niemand kannte seine wahre Größe, und niemand wusste,
wie viele Sonnen alleine schon in dieser Galaxie kreisend herumschwammen.
Je näher das Lichtschiff seiner Majestät der großen Schöpfersonne kam,
desto mehr Licht flutete ihnen entgegen.
Immer mehr Strahlenarme kamen aus dem Lichtschloss des erhabenen Allvater hervor
und verzweigten sich in alle Himmelsrichtungen.
Jeder dieser vielen Strahlenarme war schöner und anders als die anderen.
Auf jedem dieser Arme aber war jemand unterwegs.
Prächtig beladene Lichtschiffe wirbelten hierhin und dorthin.
Überallhin waren die Boten seiner höchsten Herrlichkeit
mit der ganzen Vielfalt seiner Gaben auf irgendeinem Weg - irgendwohin.
Und da erkannte König Alleslieb,
dass die ganze, weite Milchstraße in emsiger Bewegung war.
Der große Schöpfervater hatte viel zu tun,
denn jeder brauchte seinen weisen Rat,
und die nötige Energie, um damit umgehen zu können.
*
Alleslieb war ein König in seinem Reich, aber hier draußen spürte er,
wie klein und bescheiden er sich vor diesen ungeahnten Größenordnungen ausnahm.
Er, ein König, war hier nicht mehr,
als die anderen vielen Söhne und Töchter seiner erhabenen Eminenz.
Und doch verneigten sich die Sterne vor ihm so, als erkannten sie ihn alle,
einen erstgeborenen Schöpfervatersohn.
*
Dann kam das Lichtschloss seiner höchsten Herrlichkeit in Sicht,
und König Alleslieb fühlte die unbeschreiblich liebevolle Harmonie,
die dieses Bauwerk ausstrahlte.
Vor seinen Toren standen die vieläugigen Wächter,
die in der ganzen Milchstraße als die Cherubim und Seraphim bekannt waren.
Als sie nun diesen Erstgeborenen erblickten,
verneigten sie ihre lichten Häupter vor seiner Krone,
die ihm der erhabene Vater einst aufgesetzt hatte,
zum Zeichen seiner Allmacht und seiner Würde.
Ein König war schließlich ein König und alle waren ihm untertan,
und er hatte nur seinen Schöpfervater über sich.
*
So betrat König Alleslieb des Allvaters glanzvolles Schloss.
Ein Gebäude aus reinstem Licht erschaffen, feuerfarben und lichtfunkelnd.
Im Inneren aber erblickte der König den Garten der Liebe,
in dem ein schlichter Herr mit weißem Bart
und einem leuchtenden Strohhut werkelte.
Als er des Königs gewahr wurde,
hielt dieser von seiner Arbeit inne
und verneigte sich vor Alleslieb.
*
"Was tut er hier?" fragte der König erstaunt.
Ich bin der Gärtner seiner höchsten Herrlichkeit und soeben dabei,
den Schönheiten einer neuen Welt Gestalt und Namen zu geben.
"Dies hier sind zum Beispiel meine Lieblingspflanzen jener Natur,
die ich beauftragt bin zu kreieren", sagte der Gärtner freundlich."
"Ich habe sie die weißen Rosen genannt und glaube,
dass die Bewohner jener neuen Welt sie ebenso lieben werden wie ich.
Auch jene Blaublütigen dort, die ich Hortensien nennen durfte.
Sie alle aber sind die Blumen jenes Gartens, den seine höchste Herrlichkeit erdachte, um Dir, mein König, zu helfen."
*
König Alleslieb dankte dem freundlichen Gärtner
für seine interessante Auskunft und ging weiter.
Im Mittelpunkt der lichten Gärten, sah er einen kleinen, runden Tempel
von unbeschreiblicher Schönheit funkeln.
Nichts, als golden flutendes Licht brach aus ihm hervor.
Eine Aura, die zu beschreiben es keine Worte gibt, hüllte ihn ein.
Der König schritt über eine leuchtend weiße Wendeltreppe hinauf in das Allerheiligste, wo ihn jetzt der große Allvater erwartete.
In der heiligen Halle aber glühte ein Kristall so rein und wahr,
und durch diesen, sah König Alleslieb seinen Vater von Angesicht zu Angesicht.
*
"Mein geliebter Sohn!
Ich habe Dich zu mir gebeten,
um Dir mit meinem persönlich Rat einen wohlmeinenden Dienst zu erweisen,
wodurch Du in der Lage sein wirst,
Deinen, so tief in die Dunkelheit gefallenen, Brüdern und Schwestern,
bei ihrer Rückkehr in unser lichtes Königreich, behilflich zu sein.
Aus den Bausteinen Deiner Tränen, die Dein Volk für Dich gesammelt hat,
habe ich eine neue Welt gebaut.
Diese notwendig gewordene Wohnstätte
ist in ihrer Wesensart den neuen Bedürfnissen angepasst.
Sie soll e i n e f l i e g e n d e B r ü c k e sein,
zwischen unserem Königreich des Lichtes und dem Königreich der Nacht.
Die neue Heimstätte soll der Begegnung,
der beiden so unterschiedlichen Welten, dienen.
Was wir jetzt brauchen ist jemand, der den Anfang wagt,
um über diese fliegende Brücke
mit dem verfinsterten Königreich in Verbindung zu treten.
Irgend jemand von uns muss der Erste sein, der sich freiwillig hinübertraut,
denn sie brauchen dort meinen Rat und meine Energie
auf ganz besondere Art und Weise.
Es werden also schon einige Verwandlungen nötig sein,
damit sie mich auch wirklich wieder verstehen lernen."
*
"Ach, mein lieber Vater,
lass mich diesen ersten Schritt tun!
Ich will der Erste sein, der mit Deinem Heiltrank in den Händen zu ihnen hinübergeht, denn niemand liebt alle Deine Geschöpfe so sehr wie ich.
Lass mich der Weg sein, der zu Dir zurückführt." antwortete König Alleslieb
seinem großen Allvater, der die vier Weltensonnen lenkte.
"Siehst Du, mein lieber Sohn, ich wusste, dass Du es selbst weißt.
So sei es denn also,
und das wird Deinem Bruder Eigenwill helfen, zu mir zurück zu finden."
*
König Alleslieb dankte dem Schöpfer der Welten, der auch sein Vater war,
für den weisen Ratschluss, verabschiedete sich herzlich und fuhr mit freudigem Herzen über das große Urmeer zurück in sein Königreich.
Hier wurde er schon mit außerordentlicher Erwartung empfangen,
denn alle Bewohner hatten erfahren, dass sich aus dem Tränensee ihres Königs
eine fliegende Brücke kristallisiert hatte.
Und so verwandelte sich König Alleslieb in die weiße Taube I n d r a
und flog als erster, durch eines der zwölf Perlentore, zu dieser Brücke hinüber.
Dort betrat er unerkannt, das Königreich der Nacht.
VII. Kapitel
Die fliegende Brücke
Sie war rund wie eine Kugel.
Nun ja, sie hatte auch einige Dellen,
die sie doch eher wie eine Kartoffel aussehen ließen. Und sie war
von einem blauschimmernden Schleier eingehüllt.
Das eigentümlichste an ihr war,
dass sie sich trotz ihrer Schwere bewegte.
Sie brauchte einen ganzen Tag,
um sich um sich selbst zu drehen,
und ein Jahr,
um einmal den Sonnentempel des lichten Königreiches zu umrunden.
Ja, sie flog geradewegs zwischen den beiden königlichen Reichen entlang,
genau dort,
wo der Vasall Michael mit seinem Feuerschwert einst die Trennlinie gezogen hatte.
So schwebte sie auf der ihr bestimmten Bahn dahin,
immer mit der einen Hälfte dem Licht,
und die andere dem Königreich der Nacht zugewandt.
Eine, aus Tränen gebaute, fliegende Brücke, geboren aus Feuer und Eis.
*
In sieben Meeren schwammen sieben Kontinente auf ihr herum,
und dazwischen gab es tausenderlei kleinere und größere Inseln,
die ein salziges Wasser umspülte.
Im Näherkommen erkannte König Alleslieb, in seiner Verkleidung als weiße Taube, dass es - obwohl das Ganze ein grobstoffliches Wesen besaß -
doch ein wunderschöner Garten geworden war.
Auf der Sonnenseite erstrahlte der Planet
in den prachtvollen Farben des lichten Königreiches,
und selbst auf der Nachtseite
glänzten und funkelten die Sterne am weiten Himmelszelt,
Wahrhaftigkeit und Schönheit verkündend
selbst dort, wo es am dunkelsten war.
*
Während nun die weiße Taube Indra über dieses ganze, neuartige Gebilde hinwegflog, verstand sie plötzlich, was hier geschehen war und wo sie sich befand.
Die fliegende Brücke war ein kleines, eigenständiges Reich,
in dem sich Tag und Nacht begegneten,
sich einander erkannten und miteinander wetteiferten.
Beide wollten das Reich besitzen, und es befand sich immer gerade dort,
wo seine Bewohner mit ihren Gedanken verweilten.
Die Gedanken waren die Wirklichkeit,
aber die Bewohner dieses Reiches wussten nicht damit umzugehen,
denn der düstere Schleier, der ihr Bewusstsein umgab, hinderte sie daran.
*
"Scheinbar ist es ein Reich des Kampfes und der Auseinandersetzung",
dachte König Alleslieb bei sich selbst,
und flog immer dichter an diese grobstoffliche Welt heran.
Als er schon sehr nahe war,
konnte er die ganze Vielfalt dieses Planeten unter sich sehen,
und er fühlte sich langsam wohler in seinem Element,
das ihm das Leichteste und Lichteste von allen zu sein schien.
Es war ein herrliches Gefühl, dicht über den Gärten dahinzufliegen,
über die Berge und Täler und über die Meere.
Feuer und Eis, Land und Wasser, Tag und Nacht
rangen miteinander um ihre Existenz.
Alleslieb hatte die richtige Verwandlung gewählt.
Er war ein Vogel und flog souverän über der derben Materie auf und ab.
Es schien ihm, als sei er erhaben über all das Treiben da unten,
so als wäre er nur ein Zuschauer aus der Vogelperspektive,
den nichts wirklich berührte.
*
Aber dann, plötzlich fühlte König Alleslieb einen Schatten über sich,
und er blickte erschrocken hinauf.
Da war ein anderer Vogel über ihm, und der schien ihn zu verfolgen.
Seine stählernen Augen hatten ihn ganz im Visier,
sein wie ein Säbel gekrümmter Schnabel hieb nach ihm,
und seine mächtigen Krallenfüße wollten ihn ergreifen.
Nur ihre Gewandtheit rettete Indra vor den Klauen des Raubvogels,
der ihr immer noch gierig nachjagte.
*
"Also stimmt es doch!" sagte sich der König.
"Dies ist ein Reich des Kampfes und der Auseinandersetzung."
Und er flüchtete sich hinab in einen der lichten Gärten,
um vor dem Zugriff des Adlers sicher zu sein.
Er war heilfroh, dass er es noch rechtzeitig geschafft hatte,
und ließ sich in einem weißleuchtenden Rosenbusch nieder.
Hier würde ihn niemand erkennen können, dachte er sich,
und dann bekam er doch durst und musste weiterfliegen,
bis er einen Teich mit süßem Wasser gefunden hatte.
Als er aber eben seinen zarten Schnabel in das kühle Nass hineintauchte,
spürte er, wie ihn etwas am Gefieder packte und einschnürte.
Er konnte seine Flügel nicht mehr ausbreiten.
Dann nahm ihn jemand behutsam aus dem Netz,
setzte ihn in einen goldenen Käfig und verschloss die Türe hinter ihm.
Jetzt wusste Alleslieb, dass er gefangen war,
kaum dass er diese Erde auch nur berührt hatte.
*
"Indra!" flüsterte die Eitelkeit, die eine Tochter der Eifersucht und des Hochmutes war.
"Du gehörst jetzt mir, Indra, und ich werde dich lehren, mir aus der Hand zu fressen."
"Der Palast in dem Du lebst, besitzt alle Schönheiten dieser Welt",
gab Indra zur Antwort. "Warum muss gerade ich Dein Gefangener sein,
wo ich doch die Freiheit liebe?"
"Es ist meinem Stande gemäß,
dass ich auch eine weiße Taube mein Eigen nennen kann", antwortete die Eitelkeit.
"Du sollst mein schönstes Spielzeug sein,
und Du sollst es gut bei mir haben, wenn Du mir nur gehorchst."
Da betraten die Wut, eine Schwester der Eitelkeit,
und ihr Bruder, der Stolz, den Palast,
und sie sahen neidisch auf das neue Spielzeug ihrer schönen Schwester.
Die Wut war nämlich gar nicht schön anzusehen,
denn sie hatte stets einen hochroten Kopf,
aus dem immerzu neonfarbene Blitze zuckten.
Stolz dagegen war der Lieblingssohn seines Vaters, dem Hochmut,
der das Land für seinen König Eigenwill verwaltete.
Die Eitelkeit aber verließ gerne den Raum,
wenn ihre hässliche Schwester eintrat.
Diese Gelegenheit nutzte die Schwester, und so packte die Wut den goldenen Käfig,
trug ihn zum Fenster, öffnete die Tür und ließ die weiße Taube hinausfliegen.
Stolz war ganz Stolz auf seine Schwester, die Wut,
obwohl er die Eitelkeit viel mehr liebte.
*
Indra aber flog hinaus in die Gärten und war heilfroh,
dieser ganzen Herrschersippe noch einmal glimpflich entkommen zu sein.
Was waren sie doch für seltsame Gestalten,
die Untertanen seines Bruders Eigenwill, der dieses Reich regierte,
dieses Reich der anderen Seite, dieses Königreich der Nacht.
Und wie sollte er diesen Geschöpfen den Heiltrank seines Allvaters darbringen?
Wie sollte er ihnen den Weg zu ihm zurück zeigen?
Musste er nicht werden wie sie, damit sie ihn verstanden?
Nein, er konnte nicht werden wie sie; da hätte er sich wohl zu tief verneigt.
Nein, er wollte nicht werden wie sie, denn er war ja anders.
Aber er musste ihr Interesse wecken,
damit sie die Lust verspürten, sein zu wollen wie er.
Und da kam Alleslieb der Gedanke,
d i e W e i s h e i t e n d e s W e g e s z u r ü c k niederzuschreiben,
um sie dadurch ein Teil dieser Welt werden zu lassen.
Niemand sollte später sagen können, er hätte hier drüben nichts davon gehört.
*
Wer aber einmal von den Weisheiten des großen Schöpfervaters gehört hatte,
den erfüllte die Sehnsucht, mehr zu wissen und zu erfahren.
Also schrieb Ardni die ersten Weisheiten in ein goldenes Buch
und schuf damit eine neue Gestalt im Königreich der Nacht.
Und ihr Name war
S e h n s u c h t.
Diese Sehnsucht aber brachte in vielen Bewohnern des finsteren Reiches
die reinsten Gedanken hervor, zu denen sie fähig waren.
So hatte Indra, die weiße Taube, die erste gute Saat gepflanzt,
und es brauchte nun einige Zeit,
bis aus diesen Keimlingen ein Baum der Früchte trägt werden würde.
*
Als Indra seine Arbeit beendet, und das goldene Buch der himmlischen Weisheiten
in die Staatsbibliothek gebracht hatte, damit es auch für jedermann erhalten blieb,
flog sie wieder munter ihres Weges durch die Lüfte.
Sie fühlte sich so leicht und frei, wie jemand, der seine Hausaufgaben gemacht,
und nun wieder viel Zeit zum Spielen hatte.
Nun war ihr gar nicht mehr bange, als eines schönen Tages noch einmal der große, schwarze Vogel über ihr erschien und nach ihr griff.
Sie verwandelte sich einfach zurück in das gütige, geistige Wesen des König Alleslieb, denn als Indra hatte er seine erste Aufgabe auf dem Planeten Erde erfüllt.
VIII. Kapitel
Die Verwandlungen
des Königs
Das Königreich des Lichtes
erschallte vor heller Freude über die Rückkehr
König Allesliebs'.
Er hatte das erste der zwölf Perlentore aufgetan,
damit jeder, der es wirklich wollt,
zurückkehren konnte.
Jetzt war der erste Weg frei,
und er führte über die fliegende Brücke heimwärts,
dem Land der Liebe und der Schönheit entgegen.
Wer es wirklich wollte, der konnte sich jetzt aufmachen,
das Reich des Lichtes,
das Ursprungsgebiet aller Wesen und Geschöpfe, wiederzufinden.
Und immer war jemand bereit weiterzuhelfen,
wenn einer an eine Weggabelung kam und nicht mehr aus noch ein wusste.
Dann stand dort ein lichter Helfer und wies einem die richtige Richtung nach Hause.
Bald war dieser Weg so überlastet, von den vielen suchenden Wanderern,
dass es an der Zeit war, einen zweiten Weg,
zurück in die leuchtenden Ebenen, zu schaffen.
*
Abermals erschien der Bote seiner höchsten Herrlichkeit bei König Alleslieb,
und ließ ihm sagen, was zu tun nötig wäre,
und der König folgte seinem weisen Ratschluss.
Wieder nahm der König Abschied, verließ sein Königreich,
durch eines der zwölf kunstvoll geschnitzten Tore,
und er betrat den Planeten Erde, auf dem so viele Geschöpfe bittere Not litten,
weil sie den Weg zurück nicht finden konnten
oder noch gar nicht wussten, dass es ihn wirklich gab,
oder eben einfach nicht daran glauben wollten -
was ja ihr freier Wille war.
*
Dieser
Fr e i e W i l l e
ist aber eines der wichtigsten Schöpfungs- und Entwicklungsgesetze,
das einst, am Anfang aller Zeiten, vom
G R O S S E N U R G R U N D
- der ja der Vater auch u n s e r e s A l l v a t e r s ist -
in erhabener Weisheit, und zum Wohle aller Geschöpfe, beschlossen worden war.
Der große Urgrund hatte nämlich seine wichtigsten Gesetze wie göttliche Funken einfach aus dem U r f e u e r in das U r m e e r hinausgeworfen,
damit diese sich allen seinen Kindern tief in ihre Herzen einprägen mögen.
*
König Alleslieb wanderte nun im Königreich der Nacht umher
und sah die Mühen um das Leiden seiner Kinder,
das ihnen die hässlichen Gestalten seines Bruders Eigenwill zufügten,
und sein Herz wand sich in Tränen des Mitgefühls.
Seinen geliebten Bruder selbst aber fand er nirgendwo.
So emsig er ihn auch suchte, er konnte ihn nicht entdecken.
Er hätte doch so gerne einmal mit ihm persönlich,
über diese schreckliche Situation, von Angesicht zu Angesicht, gesprochen.
Eigenwill aber verweilte beharrlich in der tiefsten, stockdunkelsten Nacht,
dort, wo selbst ein König Alleslieb sich fürchtete hineinzugehen.
*
Aber es waren die ärmsten und einfachsten Geschöpfe, die seiner bedurften,
und so gesellte sich der König zu ihnen
und verwandelte sich in einen geheimnisvollen Menschen namens
Z a r a t h u s t r a.
Der war ein einfacher Hirte und hütete die Kamele seiner Sippe
in den Steppen des wüstenreichen Landes P e r s i e n.
Doch seine Brüder und Schwestern glaubten nicht an die Herrlichkeit des Lichtes,
sondern gaben dem Willen dunkler, magischer Mächte den Vorzug.
Zarathustra empörte sich gegen die finsteren Sitten und Gebräuche seiner Landsleute,
die der Anbetung von Dämonen dienten, und er begann zu predigen,
und allen Menschen von seinem großen, weisen Schöpfervater
und dem Königreich des Lichtes zu erzählen.
Alleslieb lehrte sie, nur einer einzigen, obersten Gottheit ihren Glauben zu schenken,
und seine reinen Gedanken machten viele Menschen glücklich.
*
Als der König Eigenwill von diesen wundersamen Erzählungen,
dieses Zarathustra, hörte, wurde er furchtbar zornig
und schickte seine schwärzesten Krieger gegen ihn,
und mit dem Hochmut an der Spitze,
verfolgten sie den Boten des Lichtes, so lange er lebte.
So musste König Alleslieb, in seiner Verkleidung als Zarathustra,
viel Leid auf sich nehmen und ertragen.
Aber dennoch gab er niemals auf, von den Schönheiten und Wahrheiten zu erzählen,
und das brachte viele Bewohner des Königreiches der Nacht
auf einen freundlicheren Weg.
Irgendwann aber geriet Zarathustra in die Hände seiner Verfolger,
und er musste seine Verwandlung auf dem Planeten Erde aufgeben
und wieder König Alleslieb werden.
Doch obwohl sie ihn auf Erden vernichtet hatten,
blieben seine wunderbaren Berichte,
von den feineren, leuchtenden Ebenen der Welt, erhalten,
und viele hatten begonnen, daran zu glauben.
So hatte König Alleslieb ein weiteres Perlentor geöffnet,
und sein Weg war ein leuchtender Pfad für viele geworden.
*
König Eigenwill aber war sehr darum bemüht,
die kostbaren Spuren zu den Quellen des Lebens, seines Bruders Alleslieb,
in seinem Reiche wieder zu verwischen,
damit aus dem leuchtenden Pfad ein Irrweg werden würde,
und niemand das Königreich des Lichtes wiederfinden könnte.
König Alleslieb aber war ebenso unermüdlich
und stets bereit, eine neue Verwandlung auf sich zu nehmen.
So fand er immer wieder einen neuen Weg durch das dornige, dunkle Reich
und öffnete ein Perlentor nach dem anderen.
Obwohl er immer Ähnliches wirkte,
gab er seinen Verkleidungen doch stets ein anderes Gesicht,
damit ihn seine Feinde erst erkannten, wenn seine Arbeit schon getan war.
Und immer diente die fliegende Brücke zwischen den Welten
als Ort der Auseinandersetzung und der Entwicklung des freien Willens.
*
Einmal nannten sie ihn K r i s h n a,
und er lebte in einem Land namens I n d i e n.
Dort erzählte er den Bewohnern von der Kraft der Lebensfreude,
durch die sie dauerhaft mit ihrem Vater aller Geschöpfe in Verbindung bleiben würden,
egal, welches Leid ihnen die in die Dunkelheit Verbannten auch zufügten.
Dieser besondere Planet Erde war eben ein Ort des Lernens,
und vor allem anderen ein Ort des Unterscheidenlernens zwischen gutem Wünschen und Wollen - und seinem Gegenteil.
Ja, ein Ort des Lernens, ein Schulungsplanet war die Erde,
ein Ort, an dem sich Geschöpfe von recht unterschiedlichen Entwicklungsstufen
ein Stelldichein gaben, um miteinander und voneinander zu lernen.
Aber nicht etwa ein Ort der Hohen Schulen war diese Erde,
sondern doch eher noch eine Grundschule,
in der das miteinander Sprechen, das richtig Lesen und Schreiben geübt,
und das Einmaleins der Naturgesetze studiert werden sollte.
Und bei all diesem Lernen, sollten sie niemals die Freude am Leben verlieren.
*
Ein anderes Mal nannten sie ihn T a o,
und er lebte mitten in C h i n a.
Dort war er der wahre Kaiser des Reiches,
und die einen liebten ihn für seine holden Reden von den Ordnungen der Welt,
und seine kraftvollen Taten,
und die anderen verachteten sein leuchtendes Wesen.
Er aber gab seinen treuesten Freunden den Auftrag,
alles, was er je gesagt hatte, niederzuschreiben,
denn ihm selbst blieb keine Zeit mehr dazu.
Weil seine Feinde ihn schon wieder entdeckten und verfolgten,
und nichts Wichtigers und Eiligeres zu tun hatten,
als seinen Namen auf Erden auszulöschen, und von der fliegenden Brücke
in die Abgünde des Nichtwissens und Nichtwissenwollens zu stürzen.
*
Dann kam die Zeit seiner größten Wiedergeburt.
In diesem Leben wollte König Alleslieb
das letzte der zwölf Perlentore ins Königreich des Lichtes aufstoßen.
Dazu benötigte er die Stärke und Mithilfe aller seiner Anführer
und Lehensleute in großer Zahl.
Also kamen deren viele mit ihm zur Erde.
Sie nannten ihn jetzt
den M e s s i a s,
und er versammelte sie alle um sich, die seine Getreuesten waren.
IX. Kapitel
Das Fest der Liebe
Es war wieder einmal
sehr dunkel geworden auf Erden,
und es waren jetzt tausend Jahre her,
seit der König des inneren Sonnensystems,
vom äußeren Rand der Milchstraße,
das letzte Mal
über die fliegende Brücke gegangen war.
Herrscher waren gekommen und wieder gegangen.
Einer wollte mächtiger
und siegreicher gewesen sein als der andere.
Nun aber war die Erde ausgelaugt, und eine große Finsternis lag über ihr,
und alle Bewohner spürten, wie sehr das ganze Weltreich ächzte und stöhnte,
unter der Last seiner falschen Propheten.
Sie waren gekommen und hatten großen Versprechungen gemacht,
das Gold der Welt zusammengetragen, und es für sich behalten.
Nun wurde es höchste Zeit,
dass wieder einer kam, und das alles in Ordnung brachte.
Die Welt schrie nach dem, was sie wirklich brauchte, und sie brauchte Ihn.
*
König Alleslieb aber kam nicht als großer Herrscher daher,
sondern er gesellte sich wieder mitten unter das notleidende Volk -
wurde einer von ihnen,
und musste doch im Verborgenen heranwachsen.
Streng waren die Lehren und Aufgaben jener Gemeinschaften,
die sich in der unwegsamen Natur dem Himmel näher fühlten.
Darum lebten sie draußen in der sandigen Wüste
und hatten sich die wilden Höhlen aus Felsgestein spartanisch wohnlich eingerichtet.
Als seine Zeit gekommen war, sammelte Alleslieb seine Getreuesten um sich
und zog mit ihnen durch das unterdrückte Land.
Sie verkündeten die Liebe der Menschen untereinander als das höchste Gebot,
das weise Allvater allen seinen Geschöpfen mit auf den Weg gegeben hatte.
Irgendwie war gerade dieses hohe Wissen unwichtig geworden
und schließlich scheinbar in Vergessenheit geraten.
*
Die Kunde, von diesem Messias, drang nun in die entlegensten Gebiete
des Königreiches der Nacht und gelangte somit auch,
bis an den Thron des Königs Eigenwill.
Dieser aber wurde zornig darüber, dass er die gottgegebene U r s p r a c h e
und ihren tieferen Sinn nicht mehr verstehen konnte.
Eigenwill spürte, wie sein schwerer, reichgeschmückter Thron wackelte.Seine heimliche Geliebte - die A n g s t -
schmiegte sich gerne an seine starken Schultern,
aber gerade jetzt, konnte er sie gar nicht gebrauchen.
"Will er mir m e i n e n F r e i e n W i l l e n nicht lassen?
Will er mir m e i n e n T h r o n entreißen?
Will er mir m e i n V o l k abspenstig machen?
Will m e i n B r u d e r m i c h bestehlen?
I c h b i n der Meister der Beredsamkeit und des logischen Verständnisses.
Wer an m i c h glaubt, wird schneller wachsen als alle anderen
und größer werden als die Gestalten der Herzlichkeit.
Tötet ihn!
Tötet m e i n e n Bruder!
I c h w i l l, dass er qualvoll stirbt,
damit ihm die Freude, am irdischen Dasein, für immer vergehen möge."
König Eigenwill tobte vor Wut und Widerwillen, gegen seinen Bruder,
und gegen alle, die ihm auch nur zuhören wollten.
Er, der Wunderschön, war es doch, der dieses Anderssein eigenwillig gewählt hatte,
um es schließlich besser machen zu wollen,
als der große Allvater, und seine treuen Weltensöhne.
Also ließ Eigenwill seine schwarzen Boten durch das Land reiten und verkünden,
dass seine mächtigsten Krieger bei Hofe zu erscheinen hätten.
*
Die Muschelhörner der schwarzen Boten ließen nun das Land erzittern,
die Menschen verbargen sich ängstlich in ihren mühsam erarbeiteten Häusern,
und auch in den lichteren Gärten der Erde
raunten und wisperten die Tiere, die Pflanzen und selbst die Steine,
nichts Gutes ahnend, vor der drohenden Gefahr.
*
Da kamen sie nun gehorsam, aus allen Teilen der Welt, zum Throne i h r e s Herren,
dem eigenwilligsten unter allen Herrschern.
Allen voran und hoch zu Ross ritt der Hochmut persönlich.
Ihm folgten, in giftige Wolken eingehüllt, der Neid und die Eifersucht,
der Hass und der Zorn, das Laster und der Verrat,
der falsche Stolz und die Eitelkeit.
Vor dem Throne König Eigenwills' verneigten sie ihre Häupter
vernahmen dessen eindringlichen Befehl, diesen Messias erst töten zu dürfen,
wenn sie alle ihre vernichtenden Speere nach ihm geworfen hätten,
so dass er die ganze Palette ihrer Qualen zu erleiden haben müsse.
Erst dann, wenn seine Schmerzen so groß wären,
wie alle Herzen dieser Welt zusammengenommen, sollte er sterben dürfen.
*
Die Krieger des Königreiches der Finsternis
hatten den unmissverständlichen Befehl gehört
und zogen wieder hinunter über die fliegende Brücke,
um nach diesem Messias zu suchen, und um ihn zu versuchen.
Das Laster bot ihm alle Schätze der Erde,
wenn er aufhören würde, in Sprache seines Schöpfervaters zu reden.
Der falsche Stolz und die Eitelkeit legten ihm ihre prächtigsten Gewänder zu Füssen,
und der Neid und die Eifersucht boten ihm ihre Dienste an.
Aber Alleslieb verneinte und schickte sie alle fort.
Da kam der Zorn und schürte den Hass,
und beide warfen sie ihre unendlich schmerzvollen Speere nach ihm.
Alleslieb aber ertrug ihre Schmerzen und wies die finsteren Gesellen von sich.
Nun aber zögerte der Verrat nicht länger und nahm ihn gefangen,
stellte ihn vor dem ganzen Volk auf eine Tribüne,
und der Hochmut ließ ihn auspeitschen und verhöhnte ihn dabei auf das Furchtbarste.
Dann nagelten sie ihn alle an ein hölzernes Kreuz und stellten es auf einen hohen Berg,
damit jeder sehen konnte, wieder dieser Heiland der Welt langsam sterben musste.
*
Niemand hätte alle diese Schmerzen wirklich ertragen können.
Nur König Alleslieb war so stark, weil er wusste,
dass der Schein des Todes trügt,
und dass alles Sterben in Wirklichkeit eine Verwandlung ist.
Nur seine große Liebe zu allen Geschöpfen, ließ ihn diese irdische Folter durchstehen, ohne zu verzagen.
*
Dann aber verwandelte sich der Mensch, zurück in sein königliches Wesen,
und er stieß das zwölfte Tor zum Königreich des Lichtes auf.
Von nun sollte auch dieses prachtvollste aller Tore denjenigen offen stehen,
die - natürlich erst nach dem mühsam zu bewältigenden - S t u f e n w e g - in ihr wahres Heimatland zurückkehren wollten.
*
Im Königreich des Lichtes erschallten die Posaunen,
zu Ehren ihres erhabenen Königs Alleslieb,
der als Sohn des Lichtes Sieger geblieben war, über alle Tode,
die einem das Königreich der Nacht zufügen konnte.
Die größten und schönsten Engelwesen verneigten sich tief vor ihrem geliebten König,
der für alle Zeiten und Ewigkeiten ihr Vorbild bleiben würde.
Von jener Zeit an, wurde das Kreuz, zwischen den vier Weltensonnen,
wieder als ein Symbol der Befreiung erkannt.
Um sich im raschen Lauf der Jahreszeiten immer wieder neu daran zu erinnern,
feierten die Bewohner aller lichten Lande ein großes Fest
der Verehrung der Geburt des Lichtes,
das sie auch das Fest der Liebe nannten.
Auch in den grobstofflichen Welten wie der Erde,
sollte die Solidarität aller Geschöpfe untereinander nie vergessen werden.
Denn dies war das erhabenste Gesetz, das seine höchste Herrlichkeit
jemals in der ganzen Milchstraße verkünden ließ,
und dessen Freude das ganze, weite Universum erfüllte.
X. Kapitel
Das Geheimnis der Tränen
Vater und Sohn gingen immer noch weiter
durch die sternenklare Nacht.
Bei der Geschichte, die der Vater erzählt hatte,
war beiden warm ums Herz geworden.
Immer noch spiegelten sich der volle Mond
und die flimmernden Sterne
in dem leise murmelnd dahinziehenden Fluss,
und es war ihnen,
als hätten die Gestalten der Nacht
den Atem angehalten, um der Erzählung des Vaters zu lauschen.
Jetzt raunten und wisperten die Büsche und Bäume am Weg entlang wieder wie vorher.
Es kam Johannes so vor, als sprächen sie über nichts anderes,
als über diese wundersame Geschichte, die niemals zu enden schien.
Ja, es war ihm, als wäre diese eine Erzählung aus der Unendlichkeit,
und niemand wusste von ihr, wann sie wirklich einmal zu Ende sein würde.
Aber alle Geschöpfe dieser Erde kannten sie und wurden nicht müde ihr zuzuhören.
Ja, vielleicht wollten sie alle wissen wie es weiterging.
Wann diese fliegende Brücke zwischen den beiden Welten nicht mehr gebraucht würde.
*
"Wann wird das sein, Vater? Wann wird diese Geschichte zu ihrem Ende kommen,
und wann wird König Eigenwill jemals wieder der Wunderschön werden?"
fragte Johannes ungeduldig.
"Siehst Du, mein Sohn, diese Frage habe ich erwartet", sagte der Vater ruhig.
"Eben dies ist das große Geheimnis!
Von nun an wirst Du nie wieder aufhören danach zu fragen,
wann diese Geschichte wirklich zu Ende ist.
Ich denke, dass niemand genau weiß, wann das sein wird.
Auf jeden Fall aber erst dann,
wenn sich die Gestalten der Finsternis dem Licht ergeben haben.
Erst dann, wenn alle Wesen und Geschöpfe aus dem Königreich der Nacht
in das Königreich des Lichtes zurückgekehrt sind,
erst dann darf auch König Eigenwill wieder der Wunderschön werden.
Und wisse, dass auch Du Deinen Teil dazu beitragen kannst."
"Was kann ich dazu tun, Vater?"
"Übe Dich in Geduld, mein Sohn! Erlerne die Beschaulichkeit der Dinge.
Suche und finde das Königreich des Lichtes in allem,
was Dir in Deinem Leben begegnet.
Wenn Du es gefunden hast, dann zeige auch den anderen Deinen Weg dorthin,
so wie ich Dir mein Erkennen gezeigt habe,
und andere Menschen Dir ihr Verständnis dieses Weges zeigen werden.
Denn jedes Geschöpf muss schließlich seinen eigenen Weg finden und gehen,
niemand kann das für jemand anderen tun.
Der große Schöpfervater hat viel Geduld mit uns, und er wartet ab,
bis wir uns alle aus freien Stücken entschieden haben,
in seiner weisen Ordnung leben zu wollen -
jeder einzelne auf seine einzigartige, ihm eigene Art und Weise.
Werde niemals ungeduldig, Johannes,
denn dies ist ein Weg des freien Willens
nach jedes Menschen eigener Erkenntnisfähigkeit.
Niemand sollte deswegen benachteiligt werden, nur weil er es ein wenig anders macht, und der eine früher, und der andere erst etwas später.
Wenn Du einmal traurig bist, dann erinnere Dich vielleicht an diese Geschichte,
damit Du Dir wieder bewusst wirst, warum Du eigentlich hier bist,
und warum die Dinge so sind, wie wir sie hier nun einmal vorfinden.
Denn hinter aller Dinge Gestalt
steht doch letztlich immer der weise Plan seiner höchsten Herrlichkeit.
Nun weißt Du es schon mal, warum alle Wesen und Geschöpfe dieser Welt da sind,
warum sie auch leiden müssen und nicht immerzu Freude empfinden können."
"Ja, Vater, ich habe jetzt etwas verstanden von dem Sinn dieses Lebens,
wozu die Erde da ist, und warum ich hier bin.
Aber sage mir, Vater, was tut König Alleslieb jetzt,
wo alle die zwölf herrlichen Perlentore geöffnet sind?"
"König Alleslieb sitzt wieder auf seinem goldenen Thron
und regiert sein lichtes Königreich, nach den weisen Ordnungen seines Schöpfervaters,
und dieser wiederum lauscht dem Wirken des erhabenen Allvaters,
dessen Achtsamkeit stets auf den großen Urgrund gerichtet ist,
wo aus den sprühenden Feuern seiner liebevollen Hingabe
immer neue Geschöpfe geboren werden.
Mein lieber Johannes, wenn der König aller Könige einmal etwas Zeit findet,
um über alles nachzudenken,
dann weint er sicherlich in der Stille noch so manche Träne über diese Welt,
und jene fallen dann wie Sternschnuppen vom Himmel herab
und berühren den einen oder anderen von uns ganz tief, mitten im Herzen,
so dass wir es wirklich fühlen können.
Manchmal sind es Tränen des Schmerzes,
über die Trennung zu seinem Bruder, Eigenwill,
der doch der Wunderschön gewesen war.
Ein anderes Mal sind es Freudentränen, die König Alleslieb vergießt,
über jeden einzelnen, der über die fliegende Brücke zurückgefunden hat
in das Königreich des Lichtes.
Also vergiss es bitte niemals, er weint noch heute!
Darin liegt das Geheimnis aller Tränen, die jemals vergossen wurden.
Wer weinen kann
- sei es aus Traurigkeit oder aus Freude -
der ist seinem Schöpfer ganz nahe."
Johannes ging mit seinem Vater weiter durch die sternenklare Nacht,
und es war nun nicht mehr so weit nach Hause.