Er hieß damals B l a u v o g e l,
war etwa acht Jahre alt und der ungewöhnlichste Indianerjunge,
den sich einer vorstellen konnte.
Seine flinken Augen strahlten so herrlich blau wie der klare Bergsee hier oben
in den einsamen Höhen der unbesiegten Rocky Mountains,
wo Blauvogel stolz auf seinem gefleckten Pony
an der schützenden Seite des erhabenen Medizinmannes
durch die nackten Kiefernwälder streifte.
Der zügellose Nordwind spielte mit seinem blonden Haar,
während sie aufmerksam den frischen Spuren folgten,
die sie immer höher hinauf zur karstigen Baumgrenze lockte.
Es war mühsam geworden, nach fleischreicher Beute für den langen Winter zu jagen.
*
Der große Medizinmann war ihm auch ein strenger Häuptling
und väterlicher Freund zugleich:
Als mächtiger Zauberer der W e i s s e n M a g g i e
gottähnlich bewundert und verehrt,
wenn er scheinbar unheilbare Krankheit oder ewigen Tod beschwor;
als Erster Krieger untadelig geachtet und gefürchtet,
wenn er die vernichtende Lanze unerbittlichen Gesetzes brach;
und als letztes Stammesoberhaupt herzlich geliebt, wenn er in den eisigen Nächten,
am heimeligen Lagerfeuer seine selbstgeschnitzte Pfeife rauchend,
belehrende Geschichten erzählte.
Jetzt hob der geheimnisvolle Alte seinen wissenden Blick zum sprechenden Horizont.
Erwartungsvoll schauend deutete er stumm,
nur mit den knochigen Fingern seiner greisen Hände gestikulierend,
die mystischen Zeichen des weissagenden Vogelfluges.
*
Blauvogel sah erschrocken, wie sie, gebannt in schwarzen Schwärmen,
eilig die sinkende Sonnenscheibe verdunkelten und dort,
plötzlich von den züngelnden Flammen ihres glühenden Lichtes erfasst, verbrannten.
Er hörte schaudernd, wie das grelle Echo ihrer markigen Schreie
rundum die tausendfach gezackten Schluchten durchschnitt,
dann mit dem aufsteigenden Windwirbel
die roten Bergrücken zu ihnen heraufheulte und schließlich unten,
in den von feindlichen Kriegern bedrohten Tälern, ungehört verhallte.
Dem folgte jäh der beißende Geruch jener schmerzhaft eindringlichen Stille,
deren ahnungsschwere Leere die endlose Weite
dieses gewaltigen Gebirges erstarren ließ.
Diese, eben noch die wunderbarste aller irdischen Welten,
schien nun in einem salzgrauen Meer von unbegreiflicher Traurigkeit zu ertrinken.
*
In diesem alles erschütternden Augenblick,
erinnerte sich der sonst so verwegene Indianerjunge der tiefen Weisheit
einer von W e i s s e r A d l e r s uralten Legenden.
Sie besagte, dass alle geschaffene Dinge nur dazu geschaffen wurden,
um wieder zu ihrem allwissenden Schöpferursprung
im Schosse der G r o s s e n B ä r i n zurückzukehren.
Wenn Blauvogel diese nüchterne Wahrheit erkannt hätte,
würde er wissen, wohin sein nächster Weg ihn führte.
Das winzige Kind, das er dem W e i s s e n M a n n einst raubte,
würde dann als eingeweihter Knabe,
seinem noch lebenden Volk wiedergegeben.
Dieses sollte damit ebenfalls ein unsterblicher Teil jener großen Legende werden,
die alle sterbenden Völker wieder in ihrem unergründlichen Anfang vereint.
*
Während Blauvogel sich noch erinnerte,
suchte sein fragendes Herz ängstlich nach schützender Zuflucht
bei einer tröstenden Antwort in dem lederngegerbten Gesicht seines großen Lehrers.
Häuptling Weißer Adler aber, war samt seiner feurigen Schimmelstute verschwunden,
ohne noch ein letztes Wort an ihn gerichtet zu haben.
Jetzt erst verstand er die meisterhafte Kunst
des feuerfarbenen Hüters der heiligen Berge,
etwas zu sagen, indem er sich selbst in sprechende Bilder verwandelte.
*
Damals hieß er Blauvogel.
Er schloss das kleine Buch, das ihm das erste und das liebste war
und steckte es zu seinem gefleckten Pony in den sicherlich verzauberten Futtersack.
Ihn mochte der weise Medizinmann in der großen Eile wohl vergessen haben.
Dann wartete er ungeduldig auf der malerischen Wiese
neben der staubigen Straße auf den gelben Bus
und auf die abenteuerliche Begegnung mit den feindlichen Kriegern.
***
"Mich hat ja niemals jemand wirklich gefragt, liebster P r o t o g e n o s,
du leuchtender Sohn dieses tollkühnen Titanen
unter den kampferprobten Philosophen des rumreichen Hellas!
Du bist eigentlich der Erste ....", sagte X a n t h i p p e
und entfachte aus der leidenschaftlichen Glut ihres trauernden Herzens
noch einmal das begeisternde Feuer herrlicher Erinnerung
an glücklichere Tage.
*
Protogenos sah, wie es in ihrem tränenverweinten Gesicht aufblitzte,
als sich die abschiednehmenden Blicke jener beiden Menschen trafen,
die eben noch als Mann und Frau verschlungen gewesen waren.
"Ach, Mutter! Ich wollte ja nur wissen, ob er für dich derselbe war,
wie für die tausend andächtig mit uns betenden Fackeln hier,
am Tempel des heilkundigen A S K L E P I O S ?"
*
Die junge, wohlgestaltete Frau des alten Meisters
riss ihre großen, grünen Augen aus seinem,
noch im Todesschlaf übersinnlichen Zauber, strahlenden Antlitz,
und blickte erschrocken hinaus in die sternenklare Neujahrsnacht.
"Allein wähnte ich uns in dieser letzten, gemeinsamen Stunde
und elend einsam und schon vergessen.
Was bin ich doch ein töricht Weib!
Glaubte schon selbst an das, was sogar die weißen Eulen
in meinen orakelnden Träumen zu wissen glaubten.
Oh, du starker, weiser S o k r a t e s, mein liebster P A N,
warst auch privat ergebenster Sklave deiner göttlichen Ideen!
Was hast du ihnen denn getan, dass sie dich zudem,
bis an des Hades Schwelle hin, verfolgen?"
*
Ihr Erstgeborener wurde rot vor Scham, dann blass vor Schreck,
ahnend, dass jetzt gleich die rasende Mania aus ihr brechen müsste,
wie bei der delphischen S i b y l l e.
Wer wusste schon von denen dort, wie nah' sie ihrem Gott im Fieber war?
Xanthippe - "blondes Pferd"!
So riefen sie sie draußen, auf der Bürger Gassen.
Nicht grundlos ward ihr dieser temperamentvolle Name,
von den lachenden Göttern H o m e r s, in die sonst so ärmliche Wiege gereicht,
meinten die sophistisch gebildeten Leute.
"Ach Mutter! Beim Gott der Freundschaft,
gieß nicht noch nährendes Oel zu diesen unheilzeugenden Flammen!"
bat Protogenos sie beschwichtigend.
*
Doch schon hub sie an, drohend,
als wollte sie die beiden dorischen Säulen der heiligen Vorhalle
von den marmornen Stufen in die murmelnde Menge hinunterstürzen.
"Weh' dir, M e l e t o s,
du unseliger Vasall eines, falschen Heldentum gebärenden,
kriegslüsternen Gottessohnes!
Der du das kleingläubige Volk von A t t i k a dazu verführst,
über seine Propheten der Weisheitsliebe, solch infames Gericht zu halten.
Dies ist sie, die übelste Todesangst verbreitende, blutgetränkte Lanze,
der schwarzen Reiter des frevelnden A R E S,
mit der er noch jedes verschüchterte Herz einer apollinischen Kultur
durchbohrt zurück in die glühende Wüste geschickt, aus der sie gekommen!
Beim Z E U S, hier liegt die sterbliche Hülle aufgebahrt,
die eben noch ein Geist des Lichts bewohnte,
den als solches ihr nun zu spät erkannt!" -
*
"Volk von Attika!
Erinnere dich deines getäuschten Leibes unsterblicher, gefiederter Seele,
mit der allein dein edler Geist dereinst die paradiesische Heimat
am väterlichen O l y m p zurückerobern kann.
Diese seelische Reife suchend zu erlangen, musst du nun immer wiederkehren,
als ein geistgeführtes Menschenkind.
Seht dort, den vortrefflich geflügelten Wagen des Herrn S o k r a t e s!
Er kämpfte standhaft und durchforschte beharrlich,
mit seinem untrüglichen Schwert - dem L O G O S,
das chaotische Schlachtfeld eures kosmischen Mythos,
entdeckte und befreite für euch E R O S den Großen wieder.
Zu diesem Weltschaffenden fährt er nun heim.
So sollt ihr es auf seine bronzene Herme schreiben!"
*
"Mutter! O Mutter, bitte!
Das Volk beginnt zu murren!"
Protogenos rief es ihr heimlich flüsternd zu,
als ihm der gereizten Szene dramatischer Gipfel gekommen schien.
Xanthippe hielt plötzlich inne,
erschöpft, als käme sie von ganz weit her.
Nymphengleich sah er sie, entzückt vom rätselhaften Klang des Panes Flöte,
hinter einem ätherischen Schleier aus duftenden Rosen
in die empirische Nacht entschwinden.
***
Soeben kam G i o v a n n i durch das,
von mittelalterlichen Nebelgeistern argusäugig bewachte,
römische Stadttor hereingeschwebt.
Trunken voll der, zu prickelnder Euphorie, gesteigerten Sinnlichkeit
eines magisch Verliebten, tanzte er hüpfend über die, mit knisternden Eisblumen,
festlich geschmückten Pflastersteinstraßen.
Himmelhoch jauchzend flog sein bester und einziger Hut vom lockigen Haupte,
um seine gefiederten Freunde zu grüßen,
die ihn das einfache Leben und das gurrende Lachen lehrten.
*
Die silberhell tönenden Glocken riefen bereits mahnend
zur ersten, feierlichen Weinprobe des abendmahlwürdigen Tages,
als Giovanni den imposant erleuchteten Dom erreichte.
Noch ehe die kirchengläubigen Menschenkinder
aus ihren antik restaurierten Baustilträumen erwachten,
stand er schon da und reimte.
Aus lustwandelnden Gedankenfäden webte er seidenzarte Gewänder
für seine musisch begabte Geliebte
in den erwartungsvoll heraufdämmernden Morgen.
Er wähnte sich zu nichts Höherem berufen,
als jener schicksalhaft erwählten Dame seines sehnsüchtigen Herzens
heute noch wiederzubegegnen.
*
Ja, er hatte sich hübsch feingemacht in seinem verschlissenen Mantel
aus einem anderen Jahrhundert.
Ein orangeroter Schal war seine galamäßige Krawatte.
Die klobigen Schuhe eines ruhelos durch steinige Wälder streifenden Vagabunden.
Ein heimatloser, bärtiger Geselle
auf der dornenreichen Suche nach dem ewigen Frühling.
Aber trotz abgewetzter Hose roch er nach kerniger Seife!
Und immer wieder führte ihn sein nächster Weg
unter die bewundernswerten Baumeister der edel gegliederten Dome.
*
Nicht alle sahen Giovanni dort stehen, neben der romanisch gerundeten Pforte,
die sich gigantisch gegen den schneeverhangenen Himmel türmte.
Welcher titanische Geist bedurfte solch monumentaler Erinnerungszeichen?
Die wallfahrenden Ritter und pilgernden Mönche,
die wandelnden Minnesänger und reisenden Kaufleute
gingen wortgewaltig mit sich selbst beschäftigt vorüber.
Wer ihn dennoch bemerkte, erkannte einen geradezu erbärmlich bittenden Menschen,
und warfen ihm, berührten Herzens,
eine stolzblinkende Münze in den dankenden Hut:
"Ach, ihr wohltätigen Brüder im Geiste des erhabenen Herrn, was seid ihr so gut!"
*
Jetzt, nach mühsam durchdachten Stunden,
betrat auch er das, gegen Osten kreuzende Kirchenschiff.
Er schlurfte leise über die, heiligen Geistern, geweihten Fundamente.
Aus einem leichten Netz von gebogenen Rippen
spannten sich die harmonisch gefügten Gratgewölbe,
deren tonnenschwere Lasten erbebten von den gregorianischen Gesängen.
Giovanni fühlte ihre, durch akanthusblättrige Mariensäulen, fließende Kraft
in seine schmerzverzerrten Glieder eilen.
"Halte mich, oh gütiger Vater, damit ich nicht falle!
Hier irgendwo müsste eigentlich B e t h l e h e m sein?"
*
Der vatikanische Diener verkaufte ihm bienenwachsgezogene Kerzen
für die goldenen Altäre:
Die erste zum andächtigen Gedenken an des höchsten Geistes ältesten Sohn,
des E n g e l k ö n i g s zwölften Erdengeburtstag;
und eine weitere für Giovannis holdselige Liebste;
noch eine für seinen wolligen Hirtenhund - den mit den traurigen Augen;
und eine nächste!
Zünd an! Zünd an!;
eine frisch lodernde Flamme für das bettelnde Zigeunermädchen
zwischen unseren prächtig gefüllten Einkaufstaschen;
ein inniglich brennendes Feuer für die weinende Frau,
die ihm ihre teure Theaterkarte schenkte,
weil ihr der mächtige Medicus eine schlechte Nachricht brachte;
einen ewig glühenden Stern zu beiden Seiten des sterbenden Clochards
vor dem reichsten Bankhaus in der malerischen Hauptgeschäftsstraße;
und eine allerletzte Kerze für den mutig zitternden Bettler
vor dem imposant erleuchteten Dom;
Zünd an! Zünd an!
Ein wogendes Meer von feuerfarbenen Lichtern
erfasste die sprachlos staunenden Herzen.
*
Giovanni stürmte hinaus!
Auf dem verschneiten Domplatz wartete eine buntbemalte Droschke.
Eilig sprang der trampende Dichter auf, und der hochbeinige Zotte trabte an.
Dort auf dem rauschenden Glühweinfest in der verräucherten Theaterkneipe
tanzte seine verliebte C l a r a in den blumigen Gewändern, die er ihr webte -
aus den üppigen Almosen der wahrhaftigen Gotteskinder.
***